Kommentar
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Ehemalige Heimkinder gesucht
Ehemalige des Kinderheims St.Josef in Grenchen gesucht, welche ab 1965 bis 1980 irgendwann dort im Heim waren.
bruno.frick@guido-fluri-stiftung.ch
brunofrick
02.10.2015
Erinnerungen an meine Zeit im Bachtelen
Als man mich 1959 das erste Mal in ein Kinderheim steckte, war ich noch keine drei Jahre alt. An diese im Kinderheim Hagendorn bei Cham (ZG) verbrachte Zeit erinnere ich mich nicht bewusst, sondern wurde mir von meiner vierzehn Jahre älteren Schwester, die dannzumal ebenfalls in diesem Kinderheim weilte, erzählt. Eigene Erinnerungen an meine Gefühle, Umgebung und Erlebnisse habe ich erst ab der Zeit, als ich rund drei Jahre später ins Kinderheim Bombinasco (TI) und danach ins Kinderheim Oberbalmberg (SO) verlegt wurde. Aber das sind andere Geschichten und sollen allenfalls ein andermal erzählt werden.
Nun, bevor ich dann als gerade mal achtjähriger Junge ins Kinderheim St. Joseph in Grenchen kam, wohnte ich zusammen mit einigen meiner Geschwistern in relativ ärmlichen Verhältnissen noch für eine kurze Zeit bei meinen Eltern am Klosterplatz in Solothurn. Als ich am 22. April 1965 von der Schule nach Hause kam, ahnte ich zuerst noch nicht, dass das Mittagessen ausfallen und mein Leben sowie dasjenige meines zwei Jahre jüngeren Bruders in jeder Hinsicht eine unerwartete, folgenschwere Wende nehmen sollte. Vor der Haustür warteten meine Mutter mit meinem Bruder und zwei mir unbekannte, dunkel gekleidete Männer auf mich, die uns in ein Auto setzten und sogleich losfuhren. Ich wusste nicht wohin die Fahrt, während der nicht viel gesprochen wurde, ging. Auch fragte ich nicht danach, sondern war trotz eines beklemmenden Gefühls einfach nur von der Autofahrt fasziniert, da ich schliesslich zum ersten Mal in so einem Gefährt sass.
Beim Kinder- und Erziehungsheim St. Joseph – auch «Bachtelen» genannt – angekommen, wurden wir von schwarz bekleideten Nonnen erwartet. Dazumal wurde das Bachtelen von einem gewissen Herrn Direktor Crivelli geleitet. Ihm unterstanden die Nonnen, genauer die Ingenbohler Schwestern, welche die Heimkinder zu betreuen hatten. Zum Bachtelen gehörten nebst einem Bauernhof auch eine Gärtnerei und eine Schreinerei. Doch das eigentliche Kinderheim bestand aus zwei weitläufigen Gebäuden, dem sogenannten Mädchen- und dem Knabenhaus. Im Mädchenhaus waren die Säuglinge und die Mädchen einquartiert, sowie Büros, die Küche und eine Kapelle integriert. Für uns Knaben war dieses Haus eine strengstens verbotene Zone, welche wir nur zu zwei Zwecken kurz betreten durften. Zum einen, um in der Küche das Essen (in grossen runden Militärkübeln) abzuholen und zum anderen – obligatorisch und immer von Nonnen begleitet – um viermal wöchentlich in der Kapelle den Gottesdienst zu besuchen – die einzige Gelegenheit übrigens, die Mädchen überhaupt mal zu Gesicht zu bekommen – diese waren dabei «natürlich” auf den gegenüberliegenden Sitzbänken abgeschirmt. Im durch einen grossen Platz vom Mädchenhaus abgesonderten Knabenhaus, an welches die Wäscherei angebaut war, wohnten der Direktor, eine Schreinerfamilie und Josef, einer der beiden Gärtner, sowie die Knaben – aufgeteilt in zwei getrennten Gruppen, den sogenannten Grossen und den Kleinen Buben.
Nun, nachdem wir in Empfang genommen worden waren, führten uns die Nonnen ins Haus und unsere Mutter dann zusammen mit den zwei Herren in ein Büro. Mein kleiner Bruder und ich mussten in einem separaten Zimmer warten bis wir von einer anderen Nonne, Schwester Philomena, abgeholt und durch einen Gang fortgeführt wurden. Dabei sah ich gerade noch, wie unsere Mutter und die besagten zwei Männer den Gang in der entgegengesetzten Richtung verliessen ohne sich von uns zu verabschieden. Ich fühlte mich ziemlich verwirrt, da ich nicht im Geringsten verstand, was da eigentlich vorging. Schwester Philomena führte uns beide zum Knabenhaus und machte uns beim Überqueren des Platzes zwischen dem «Buebehus» und dem «Meitlihus» schon mal klar, dass dies die Grenze sei, die wir Knaben niemals überschreiten dürften und für uns das Betreten des Mädchenhauses strengstens verboten sei. Nach dieser verschreckenden Warnung brachte sie uns zu den rund fünfzig «Chline Buebe», welche unter ihren Fittichen standen.
Der Aufenthaltsraum war nur schlicht mit ein paar Tischen und Stühlen eingerichtet, das Esszimmer ebenso und relativ klein. Der grosse Schlafsaal mit vier Reihen eng zusammenstehenden Eisenbetten befand sich im Obergeschoss. Vom Schlafsaal führte ein langer Gang hin zu den Toiletten und zum Waschraum, die wir Kleinen Knaben mit den Grossen Knaben zusammen teilten, und dann noch weiter führte, hin zu den Schlafzimmern der «Grosse Buebe». In den Toiletten gab es keine Rollen Toilettenpapier, sondern nur alte Zeitungen, die wir halt in vergleichbare Stücke zerreissen mussten. Duschen oder Badewannen gab es auch nicht, nur eben dieser Waschraum mit ein paar Reihen eiserner Waschbecken mit kaltem Wasser, also ohne Warmwasser, wo man sich morgens und abends das Gesicht wusch – rudimentärste Körperpflege eben.
Wenn wir nach der Schule die Hausaufgaben erledigt hatten, aber auch in den Schulferien, mussten wir turnusmässig eine von allerlei Arbeiten verrichten, wie Beeren pflücken; beim Bauern auf dem Hof oder dem Feld oder in der Gärtnerei arbeiten; das Essen holen; für alle das Essgeschirr tischen, dann wieder abräumen und die Tische reinigen; das ganze Essgeschirr abwaschen, abtrocknen und versorgen; die Böden aller Zimmer und Säle wischen und die Steinböden glänzend blochen; die Höfe und Wege wischen. Da blieb nicht wirklich viel Freizeit um zu spielen, insbesondere wenn die Arbeit zur Strafe erledigt werden musste. Dann nämlich kassierte man gleich mehrere dieser «Ämtli» und musste dieses teilweise nachts erledigen oder nach getaner Arbeit gleich nochmals, beispielsweise weil beim Hof wischen ein paar Steinchen liegen geblieben oder wieder ein paar Baumblätter hingeweht worden waren.
Wir wurden auch oft gedemütigt, weil wir und unsere Eltern – wie die Nonnen uns immer wieder sagten – «Vaganten und Vagabunden» seien und «man uns alle erschiessen sollte». Tatsächlich waren die Nonnen nicht zimperlich und wendeten regelmässig psychische und physische Gewalt oder Strafen an, wie zum Beispiel tausendmal einen Satz schreiben; stundenlang drinnen auf dem Stuhl sitzen, mit dem Kopf in die auf dem Tisch verschränkten Arme versenkt; die Ohren lang ziehen bis es knackte; saftige Ohrfeigen oder auf den Mund; heftige Tatzen mit dem Bambusstock auf beide Handseiten; Fusstritte; Schläge mit der Hand oder mit dem Teppichklopfer auf den nackten Hintern; Schläge mit dem Bambusstock auf den Körper wo er gerade hin traf, teilweise bis der Bambus zersplitterte – solches war an der Tagesordnung, manchmal auch regelrechte Prügel. Einmal wurde ich derart verhauen und bestraft – und zwar aufgrund eines harmlosen Missverständnisses – dass ich mich nicht daran erinnere, wie es endete und wie ich dann wieder aus diesem Zimmer kam, obwohl ich diesen Vorfall bis ins kleinste Detail erinnere, aber eben nur bis zu einem gewissen Moment. Ich kann freilich nur für mich selbst sprechen, weiss aber genau und habe oft selbst gesehen, dass die meisten anderen Knaben dieselben Erniedrigungen und Strafen – dann und wann kollektiv – erfahren haben. Diese «Erziehungsmethoden» bekam man wohlverstanden schon beim geringsten Fehlverhalten zu spüren, vielfach aber einfach auch nur, weil man im falschen Moment zufällig in der Nähe einer aufgebrachten Nonne stand.
Abends, nachdem wir uns schlafen gelegt hatten, löschte die Nonne jeweils alle Lichter und lief ununterbrochen den langen Gang betend auf und ab. Wer von ihr dann noch beim Reden oder Flüstern erwischt wurde, musste – solange es ihr beliebte – im Gang mit ausgebreiteten Armen stramm stehen oder dazu Kniebeugen machen. Manchmal musste man dies sogar nackt verrichten oder mit an den Armen angehängten schweren Schuhen. Etwas später dann, nachdem die Nonne irgendwann wohl auch schlafen gegangen war, schlich sich manchmal der eine oder andere grössere Knabe in unseren Schlafsaal und legte sich mal zum einen, mal zum anderen von uns ins Bett, wovon auch ich nicht verschont blieb. Dann rieb er sich an mir und ich musste ihn streicheln oder sonst welche Handlungen vornehmen, von denen ich lange absolut keine Ahnung hatte, was das eigentlich sollte. Darauf schlichen sie sich wieder davon oder legten sich vorher noch zu einem anderen Jungen. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren – einerseits waren sie stärker und andererseits wäre man vom Jugendlichen sicher, allenfalls auch noch von den Nonnen verdroschen worden, ausserdem hätten diese sexuellen Übergriffe später sowieso wieder stattgefunden.
Nach rund zwei Jahren wurde ich von den Kleinen zu den Grossen Knaben verlegt, wodurch ich in gewisser Weise von meinem Bruder getrennt wurde. Die rund sechzig «Grosse Buebe» wurden von der mir inzwischen wohlbekannten und noch um einiges strengeren Schwester Aiberta beaufsichtigt. Der Aufenthaltsraum und das Esszimmer der Grossen Knaben waren relativ geräumig, und wir schliefen in Vierer- und Fünferzimmern, welche sich beidseitig des langen Gangs aneinandergereiht im Obergeschoss befanden, an dessen Ende ja auch der Schlafsaal der Kleinen Knaben angesiedelt war. Dies waren in etwa die einzigen nennenswerten Unterschiede, der Rest blieb alles beim Alten: Haus-, Hof- und Feldarbeiten, Ämtli, Strafen, Demütigungen, Schläge sowie die gelegentlichen sexuellen Übergriffe durch andere Jugendlichen. In den rund drei Jahren, die ich bei den Grossen Knaben verbrachte, wurde ich vom damals schätzungsweise 35-jährigen Gärtner Josef mehrmals in sein Zimmer genommen, wo er sexuelle Handlungen mit mir vornahm.
Die Mädchen sahen wir wie erwähnt weitestgehend nur während der Gottesdienste. In all den im Bachtelen verbrachten Jahren, boten sich mir keine Gelegenheiten, mit einem dieser Mädchen zu sprechen, geschweige denn zu lernen bzw. durch Erfahrungen zu erkennen, wie ich mich gegenüber Mädchen verhalten soll. Sie wurden, waren und blieben für mich unbekannte, ja suspekte Wesen, denen man sich scheinbar besser nicht nähert. Jetzt bin ich im meinem 61. Lebensjahr und immer noch beziehungsunfähig – die unsichtbare, massive und unüberwindbare Mauer um mich herum, die mir an diesem 22. April 1965 von Schwester Philomena aufgezeigte Grenze, hielt bedauerlicherweise hartnäckig stand.
Nach fünf prägenden Jahren im Bachtelen wurde ich als 14-jähriger Junge 1970 – ein Jahr später dann auch mein jüngerer Bruder – ins Knabeninternat S. Anna in Roveredo (GR) verlegt, welches von Ordensbrüdern geführt wurde. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Aus der Zeit im Bachtelen erinnere ich mich jetzt noch gut an etliche der Kleinen und Grossen Buben, die ich gerne mal wiedergetroffen hätte. Unter anderen der Piller, der Zimmermann, Vito, Marcel, Anton, Ivan, Tschänggu und sein Bruder Edi sowie Franz und sein älterer Bruder. Was ist wohl aus ihnen geworden?
Enrico1956
08.08.2017